Er setzte Blutegel und zog Zähne
Es muss ein Mann mit besonderen Fähigkeiten gewesen sein, der dritte Bürgermeister von Kolbermoor, Eduard Angerbauer. Von Beruf war er approbierter Bader und Chirurg, wurde 1864 von der Spinnerei als Fabrikarzt angestellt, musste aber schon ein Jahr darauf einem richtigen Arzt Platz machen. Er blieb aber hier und betätigte sich in den erlernten Berufen. So setzte er heißblütigen Mitbürgern Egel und zog, wo nötig, auch Zähne. Als Bader übte er zudem auch das Friseurgewerbe aus, schnitt Bart und Haare, scheute sich aber auch nicht, zum Rasiermesser zu greifen.
Doch Angerbauers Sinn stand nach Höherem. 1866 zog er in den Gemeinderat ein, wurde 1870 Zweiter Bürgermeister und 1881 nach Mathias Stadlers Tod Bürgermeister. Diesen Höhenflug in dieses auch damals schon heißumkämpfte Amt gewann er nur mit Unterstützung des allmächtigen Spinnerei-Direktors Waldemar von Bippen, im Volksmund „baumwollener Herrgott" genannt, der in ihm ein williges Werkzeug seiner Politik sah. So war und blieb er 18 Jahre lang ein Schattenbürgermeister, der vom Rockzipfel seines Herrn nicht wegkam.
Die Folgen wurden bald offenbar: Nicht in der Gemeindekanzlei wurden die Geschicke Kolbermoors entschieden, sondern im Kontor der Spinnerei. Diese Abhängigkeit Angerbauers war zum Teil auch beruflicher Natur. Denn Tag für Tag, wenn Herr von Bippen nicht verreist war, machte er sich auf den Weg, um seinen Herrn und Meister von den über Nacht gewachsenen Bartstoppeln zu befreien.
Von seiner Wohnung bis zur Spinnerei war er die respektheischende Amtsperson, in von Bippens Nähe der geschickte Bader, dem es darauf ankam, seinen vornehmen Kunden (und damit sein Amt) nicht durch Ungeschicklichkeit zu verlieren.
Diese Sorge, bei seinem Herrn in Ungnade zu fallen, führte auch dazu, dass Angerbauer unterwürfig und klatschsüchtig wurde und seine Baderstube sich in eine Nachrichtenzentrale wandelte. Mit der täglichen Rasur verband er seinen täglichen Rapport, bei dem er über alles Rede und Antwort stand, was sich am Ort ereignete. So war der mächtigste Mann Kolbermoors stets im Bilde, was in der Gemeinde vor sich ging. Dadurch wurde für von Bippen der Bürgermeister unersetzlich, da er ja das best geeignete Werkzeug war, ihn an der Macht zu halten. Die Quittung für sein doppelzüngiges Verhalten erhielt Angerbauer, als von Bippens Einfluss dahinschwand. Er fiel mit ihm bei den Mitbürgern in Ungnade.
Die ersten zehn Jahre seiner Amtszeit war Angerbauer beliebt. Seine Leutseligkeit, sein Können und seine hohe Intelligenz sprachen für ihn. Seine öfters durchbrechenden diktatorischen Allüren allerdings wurden ihm übel genommen. Vor allem waren es die Gemeindebediensteten, die gegen ihn aufmuckten und ihm schwere Stunden bereiteten. Es kostete ihm viel Mühe, sich durch harte Maßnahmen durchzusetzen, bei denen er auch vor Kündigungen nicht zurück schreckte.
Beim großen Hochwasser am 2. September 1890 kam es zum unheilbaren Riss zwischen Angerbauer und den Einwohnern. Er hatte sich in der Katastrophennacht in sein Haus eingeschlossen und kategorisch abgelehnt, die erforderlichen Hilfsmaßnahmen durchzuführen. Diese Sturheit wurde ihm nicht verziehen. Hinzu kam noch sein bürgerfeindliches Verhalten, als 1896 die von Herrn von Bippen bekämpfte Freiwillige Feuerwehr gegründet wurde. Dies alles kostete dem sonst so klugen Mann die Sympathie, so dass er bei der Gemeinde- und Bürgermeisterwahl im November 1899 auf verlorenem Posten stand. Als er dann 1907 starb, hatten ihn die Kolbermoorer schon fast vergessen.
Zu seiner Ehre sei aber gesagt: Unter Angerbauers Amtsführung als Erster Bürgermeister wurden die ersten eisernen Kanal- und Mangfallbrücken gebaut. Auch der Bau des Krankenhauses fällt in seine Amtszeit. Trotz seines „Schattendaseins" war er, wie berichtet wird, kein schlechter Bürgermeister, der manches für seine Mitbürger tat, wenn auch nicht alles seiner Eigeninitiative entsprang. Kolbermoor wollte deshalb nicht undankbar sein und benannte eine Straße nach ihm.