Die Rabenmutter von Kolbermoor

Aus den Jahren 1885 bis 1895 bringt der ehemalige Spinnereiprokurist Albert Loher, nach dem in Kolbermoor eine Straße benannt ist, in seinen Aufzeichnungen, die Chronist Johann Wipper überlieferte, eine Geschichte über die „oahandlate Marie", die damalige Postbotin der Spinnerei. Sie zählt zu den merkwürdigsten Persönlichkeiten des alten Kolbermoor, die ihrer Eigenart wegen unvergessen bleiben sollten.

Die „oahandlate Marie" war, wie schon ihr Spitzname besagt „einhändig"; einem ihrer Arme, an welchem wird nicht berichtet, fehlte die Hand. Viermal täglich hatte sie als Postbotin des Werkes die Post zur Bahnstation zu bringen, wo sich damals auch das „Postexpedit" befand. Auf ihrem Wege kam die Marie am alten Pumpbrunnen vorbei, der damals vor dem Spinnerei-Meisterhaus stand und dessen Bewohner mit frischem Wasser versorgte.

Die Geschichte, die Loher erzählt, trägt sich zur Winterzeit zu, in der die Zäune und Pfähle der Anwesen weiße Käppis trugen und in der die mächtigen Kastanienbäume, wie Rekruten zur Parade ausgerichtet, in zwei Reihen in der Haßlerstraße standen und bis in die höchsten Spitzen und Knospen hinaus wie mit weißer Watte bedeckt waren. Der hölzerne Pumpbrunnen, der in der Geschichte eine Hauptrolle spielt, hatte sich mürrisch eine Schneemütze schief ins Gesicht gezogen. Er war den Kolbermoorern ohnehin gram, weil sie ihn schon länger verdächtigten, er trinke die Wasser des Bahndamms, die als giftig verschrien waren.

Nur eine einzige Menschenseele ist dem Brunnen treu geblieben. Sie, das „oahandlate Mariele", ließ ihn, den einsam gewordenen und gemiedenen Gesellen, nicht allein. Auch nicht an dem Morgen, an dem die Haßlerstraße einsam und still dalag und in ihren Bäumen nur etliche Raben krächzten und mit schwerem Flügelschlag um die Wipfel kreisten. Ihre Artgenossen, die droben im Schillerwald auf den Tannen saßen, sahen sie und schon stieß die ganze Schar im Sturzflug herab und bemächtigten sich lärmend der Kastanienbäume. Gar seltsam gebärdeten sich die schwarzen, sonst so zaghaften und scheuen Vögel.

Da löste sich vom Güterschuppen am Bahnhof eine schwarz gekleidete Frauengestalt, kam watschelnden Schrittes langsam durch den hohen Schnee und betrat die Kastanienallee. Wie wütend stürzten sich die Rabenvögel auf das alte Mutterl und flatterten wie eine schwarze Wolke über die Frau hin. Sie flogen hinauf auf die Gipfel, vor und hinter ihr, hüpften sittsam am Boden und ließen sich wie zahme Tauben von der „Rabenmutter" füttern. Es störte das Rabenvieh auch nicht, als von Lohholz her eine Rotte Kinder gezogen kam, die Hände zum Wärmen in den Taschen vergraben, die Wollmützen über den Ohren und die Schulranzen auf dem Rücken. Im Gänsemarsch stapften sie durch den tiefen Schnee zur Schule. Des Weibleins gewahr geworden, riefen sie schon von weitem: „Oahandlate Marie, oahandlate Marie!" Doch sie hatte heute keine Zeit für die Kinder. Um die Wette keifte und schnatterte sie mit ihren Raben, die sie immer wieder umringten und anbettelten.

„No, du Gschroamäu, du wüaschts", schalt sie den einen, der ihr den Brotbrocken laut krächzend und schreiend aus der Hand riss; die schwächeren Tiere aber, die sich um die Reste balgten, lockte die „Rabenmutter" mütterlich an sich und warf ihnen Brotstücke zu. Mit ihrem schwarzen Kopftuch, dem dunklen Jäckchen, dem weiten, faltigen, schwarzen Rock hob sie sich wie eine Silhouette vom Weiß der Schneelandschaft ab.

Die Postmappe unter dem handlosen Armstumpf geklemmt, hielt sie Brotzeit mit den Raben und stapfte dabei in ihren riesigen Männerstiefeln gelassen durch den tiefen Schnee, stattete dem verfemten Pumpbrunnen einen Besuch ab, hielt ihre Hand an die mit blanken Eiszapfen verhängte Röhre, befeuchtete mit ein paar Tropfen Wasser das harte Brot und nagte daran mit zahnlosem Mund. Dann erst ging die „oahandlate Marie" wieder ihrer Arbeit nach und wanderte langsam in die Spinnerei, um ihre Post abzuliefern und sich mit neuer wieder auf den Weg zu machen.