Der baumwollenen Herrgott
Kolbermoor ist reich an Originalen, aber auch an Persönlichkeiten, die die kommunale und gesellschaftliche Entwicklung der 1863 ins Leben gerufenen Gemeinde auf Jahre hinaus bestimmten. Einer davon ist der ehemalige Direktor der Spinnerei, Waldemar von Bippen, der von 1874 bis 1896 im Gemeinderat saß und mehr als der Bürgermeister zu sagen hatte.
Den „baumwollenen Herrgott" oder „den lieben Gott von Kolbermoor" nannten ihn die damaligen Einwohner der Stadt und der Bauerndörfer ringsum. Als „graue Eminenz" führte er ein strenges, aber doch korrektes Regiment in der aufstrebenden Gemeinde, die ja von ihm als dem Herrn der Spinnerei auch finanziell abhängig war.
Sein Einfluss war übermächtig: Wer nach Kolbermoor zuziehen durfte, entschied nicht der Gemeinderat. Das hatte sich der Herr von Bippen vorbehalten. Das Bürgerrecht kostete damals 40 bis 50 Mark, ein hoher Betrag für diese Zeit, der nur schwer aufzubringen war. Für Arbeiterfamilien brachte diese Summe eine lange Zeit des Sparens und Darbens. Doch hatte diese „Sperre" auch manch Gutes. Förderte sie doch das von der Spinnerei vertretene Ausleseprinzip, asozialen und arbeitsscheuen Elementen den Eintritt in den Gemeindeverband zu verwehren.
Die Spinnerei, damals Kolbermoors größter Arbeitgeber, sah damals darauf, nur gute und verlässliche Arbeitskräfte zu erhalten. Ihr und der Gemeinde hätte es nichts genützt, wären die nach Kolbermoor drängenden Arbeiter mit ihren Familien dem Gemeindesäckel zur Last gefallen. Die Spinnerei wollte einen sesshaften, disziplinierten und betriebstreuen Arbeiterstamm heranziehen, der ihr einen verlässlichen Nachwuchs über Generationen hinaus sichern sollte. Die Entwicklung späterer Jahre hat auch gezeigt, dass von Bippens Taktik weitschauend und berechtigt war. Sonst hätte es in Kolbermoor nicht eine ganze Anzahl Familien gegeben, deren Vorfahren bis ins dritte und vierte Glied in der Spinnerei beschäftigt waren.
Trotz dieser weisen Voraussicht stimmten viele Kolbermoorer, die ihn nicht verstanden, mit von Bippens Methoden nicht überein. Gab es doch Fälle, die auf Widerspruch stießen. So bekamen Männer, die sich willig zeigten, Spinnereiarbeiter, die genehm waren, von Herrn von Bippen das notwendige Geld zum Kauf des Bürgerrechtes. Dieses an Korruption mahnende Vorgehen forderte Arbeiter heraus, die auch mit den politischen Ansichten des „baumwollenen Herrgotts" nicht einig gingen. Als Folge gründeten sie den sozialdemokratisch ausgerichteten „Heimat- und Bürgerrechtsverein" und sammelten Beiträge, um Mitgliedern helfen zu können, das Bürgerrecht auch gegen den Willen des allmächtigen Direktors zu erwerben. Kein Wunder, dass durch von Bippens selbstherrliches Benehmen der Unwille gegen ihn wuchs.
Er fand einen sichtbaren Niederschlag in verschiedenen Protestaktionen, die das nahe politische Ende des „Herrgotts" ahnen ließen. Da er den Bogen wider besseren Wissens immer mehr überspannte, bröckelte sein Einfluss immer mehr ab. Verschiedene äußere
Anlässe und das Verhalten seines Schützlings, des Bürgermeisters Eduard Angerbauer, brachten den Umschwung. Es kam zuerst zu einem erbitterten Kampf um dessen Sessel, bei dem von Bippen sich mächtig anstrengte der Opposition gegen den Bürgermeister Herr zu werden, wohl wissend, dass bei seinem Fall auch sein Regime ein Ende hat.
Alle Anstrengungen nützten nichts, Schritt für Schritt verlor von Bippen an Boden, seine Gegner waren in der Überzahl, sämtliche Kandidaten, die die Spinnerei für die Gemeinderatswahl aufgestellt hatte, wurden geschlagen und zum neuen Bürgermeister wurde an Angerbauers Stelle der angesehene Kaufmann Edmund Bergmann gewählt. Er hatte sich im Wahlkampf als ein ebenbürtiger Gegner von Bippens erwiesen und ihn mit Angerbauer entthront.
Mit dieser Wahl (1899) wurde auch die Vorherrschaft der Spinnerei im kommunalen Bereich beendet, die immerhin Jahre hindurch sich für das junge Gemeinwesen sehr segensreich ausgewirkt hatte. Von Bippens Verdienste um Kolbermoor bleiben unbestritten – deshalb wurde auch nach ihm eine Straße benannt, die die Erinnerung an den „Kolbermoorer Herrgott" für immer wach halten wird.