Das Eisenbahnunglück 1887

 

Der Chronist Johann Wipper schreibt über das Eisenbahnunglück vom 26. Juli 1887:

Auf dem Heimweg von der Schule während der Mittagspause sah ich von der Anhöhe des sogenannten „Überlackerberges" aus den von Rosenheim eingetroffenen Postzug entgleist auf den Schienen liegen; er versperrte alle drei Gleise.

Wilde, unkontrollierbare Gerüchte waren in Umlauf im Ort; so von mindestens 50 Toten, Schwer- und Leichtverwundeten und Bereitstellung von geeigneten Räumen. Damals hatte ja Kolbermoor noch kein Krankenhaus.

Wie war das Unglück geschehen?

Der Wechselwärter (Weichensteller) hatte nach Verlassen des nach Aibling abfahrenden Güterzuges wieder seinen Posten bezogen, das heißt, die Wechsel wenn nötig wieder in die richtige Lage bringen, was vom Stationsvorsteher am Stand der Wechselscheiben festzustellen war. Die obere Schranke und die untere schienengleiche Bahnüberfahrt waren geschlossen. Der Wechselwärter ging noch seinen anderen Dienstverpflichtungen nach (wie Herrichtung der Beleuchtungskörper für den Nachtdienst und so weiter).

Mittlerweile hatte der Vorarbeiter vom Tonwerk (später Platzmeister genannt) von dem Betriebsbeamten der Station kurz vor dem Abläuten des von Rosenheim abgehenden Postzuges die Erlaubnis erhalten, den vom Güterzug auf dem ersten Gleis zurückgelassenen und mit Ziegeln beladenen Wagen in das Abstellgleis des Tonwerks abschieben zu dürfen. Weder der Bahndienstleiter noch der Vorarbeiter haben den Wechselwärter von dieser Erlaubnis in Kenntnis gesetzt. Telefon von der Station zu den einzelnen Außenposten gab es damals noch nicht.

Als der Postzug, von Rosenheim kommend an der unteren Kurve in Sicht war, wollte der mit Horn und Signalfahne ausgerüstete Wechselwärter sich, wie es Vorschrift war, zu dem Wechsel begeben, wurde aber abgelenkt durch den Anblick von zwei zwischen den Gleisen spielenden Kindern bei dem etwa 40 Meter entfernten östlichen, schienengleichen Bahnübergang (Flurstraße). Der Anblick der beiden spielenden Kinder hatte zur Folge, dass es der Wechselwärter unterließ, sich vom Stand der Weichen zu überzeugen. Er lief auf die beiden Kinder zu. Der fünfjährige Knabe lief, als er den Wechselwärter auf sich zukommen sah, davon. Das vierjährige Mädchen musste vom Gleis weggeführt werden, ehe es von der herankommenden Lokomotive erreicht wurde.

Durch mehrere Warnsignale mit der Dampfpfeife versuchte der Lokomotivführer den Wechselwärter auf den falschen Stand der Weiche aufmerksam zu machen (bei richtigem Stand zur Geradeausfahrt war eine weiße Milchglasscheibe an der Weiche zu sehen. Bei falschem Stand war die weiße Scheibe nicht zu sehen).
Dem Wechselwärter war es nicht mehr möglich, die Weiche noch vor der Lokomotive zu erreichen. Die Maschine, der Tender und ein Waggon hatten die Weiche schon passiert, als der Wechselwärter in der Verwirrung die Weiche gleich zweimal zog. Das hatte zur Folge, dass die dem ersten Waggon folgenden Waggons mit Ausnahme der letzten zwei des Zuges aus den Schienen sprangen und entgleisten. Die entgleisten Waggons standen alle schräg, der mittlere war umgestürzt.
Da es damals noch keine Luftdruckbremse gab, sondern nur als Notbehelf die einfache Handbremse, war es dem Lokomotivführer nicht mehr möglich den Zug, der noch in voller Fahrt war, auf der verbleibenden kurzen Strecke noch abzubremsen bzw. zum Stehen zu bringen. Erst der Aufprall auf den beladenen Waggons brachte den Zug zum Stehen und zum größten Teil auch zur Entgleisung.

Der Weg, den der Zug auf das dritte Gleis zu genommen hat, bis zum demolierten Wagen, bewies unbestreitbar, dass der Vorarbeiter des Tonwerkes die vorher richtig gestellt gewesenen Weichen nicht wieder in die richtige Lage brachte, sondern sie ließ, wie er sie gestellt hat. Angesichts der bedrohten Kinder, Haftpflicht und Gefahr, war es dem Wechselwärter nicht zu verdenken, dass er in dieser plötzlich veränderten Lage verwirrt wurde und etwas tat, was das Unklügste war, das er tun konnte, nämlich die Weichen zu stellen, als sie eben vom Zuge passiert wurde.

Welches waren nun die Folgen?

Ein Lehrer aus Sachsen hatte sich durch das Einschlagen der Fenster die Pulsader verletzt, ein anderer Herr aus München trug eine Kopfverletzung davon. Drei weitere Reisende hatten leichte Schnittwunden und Prellungen davongetragen.

Die Verhandlung im Mai 1888 am Landgericht Traunstein ergab Folgendes:
Das Gericht stellte sich völlig auf den Standpunkt der Bahnvorschrift: „Der Wechselwärter ist verantwortlich für den von ihm zu beaufsichtigenden Wechsel!"
Weder der Umstand des nachträglich gezogenen Wechsels durch den Vorarbeiter, noch die
Rettung der Kinder fielen bei der Beurteilung des Unglücks von Seiten des Gerichts ins Gewicht. Die ganze Schuld blieb am Wechselwärter haften. Während alle anderen Mitangeklagten freigesprochen wurden, verurteilte man den Wechselwärter zu einer kurzen Haftstrafe, suspendierte ihn vom Dienst und pensionierte ihn. Auch wurde er zur Tragung der Kosten verurteilt. Später erließ man ihm die Hälfte der Kosten.

Kolbermoor, den 20. Mai 1937 Johann Wipper

Quelle: Chronik Kalhammer